Wohl die wenigsten werden sich angesichts des nahenden Weihnachtsfestes fragen, ob die rund um die Geburt des Gottessohns vor ungefähr 2000 Jahren berichteten Zeichen und Wunder historisch nachweisbar sind. Lange vor Aufkommen des Christentums feierten die Griechen die Geburt des Herkules und sein ruhmreiches Leben, ohne zu fragen, ob er wirklich schon als Kind in der Wiege die Schlangen erwürgte, die die Göttin Hera ihm geschickt hatte, um ihn zu töten. Philosophen, die dies bezweifelten, galten als Spielverderber. Es liegt mir fern, ein Spielverderber zu sein, doch wenn spekulative und sogar falsche Angaben als historische Realität angesehen werden, besteht dringender Korrekturbedarf. Mit dieser Ansicht stehe ich keineswegs alleine. Viele christliche Theologen (namhafte katholische Gelehrte eingeschlossen) betrachten die christliche Weihnachtsgeschichte nicht als historischen Bericht, sondern als Legende – wenn auch als Legende von immenser theologischer Bedeutung.
Kindheitsgeschichten
Um die Entwicklung des Jesusbildes zu verstehen, ist eine chronologische Ordnung der 27 Bücher des Neuen Testaments unabdingbar. In den ältesten neutestamentlichen Texten, den Paulusbriefen, ist nirgendwo von einer jungfräulichen Geburt Christi die Rede. Dem Galaterbrief zufolge wurde er unter dem jüdischen Gesetz von einem Weib geboren, d.h. als übernatürliches Wesen hatte er sich zum äußersten erniedrigt, um Mensch zu werden. Eine wunderbare Geburt würde dieser Vorstellung völlig widerstreben. Der zweitälteste Text ist das Markusevangelium, das zu Jesu Geburt und Kindheit keine Angaben macht, sondern ihn erst als Erwachsenen einführt. Im gesamten Neuen Testament berichten nur Matthäus und Lukas – auf widersprüchliche Weise – über die Kindheit Jesu. Dies ist ein Hinweis, dass sie nach dem Jahr 70 das Markusevangelium unabhängig voneinander erweitert haben. Es überrascht, dass beide sich mit einer menschlichen Abstammung Jesu väterlicherseits befassen, obwohl er in beiden Evangelien den heiligen Geist zum Vater haben soll. Schon im Römerbrief wurde er als Davidssohn bezeichnet – ein nicht überraschender Titel für den Messias. Matthäus und Lukas bestätigen dies mit Stammbäumen. Beide führen über Joseph bis zu David zurück, doch sie nennen völlig verschiedene Namen, und beide führen zu Joseph, nicht zu Maria, die von Lukas gänzlich unterschlagen wird.
Aus theologischen Gründen lassen beide Evangelisten die Geburt in der Davidsstadt Bethlehem erfolgen, müssen dies aber mit Markus’ Angabe in Einklang bringen, dass Jesus als Erwachsener in Nazareth wirkte. Matthäus lässt Joseph und Maria in Bethlehem wohnen und einen Engel Joseph im Traum dazu auffordern, mit Weib und Kind nach Ägypten zu fliehen, da Herodes der Große nach dem Leben des Kindes trachte. Nach dem Tod des Königs rät ihm wiederum ein Engel im Traum, nicht nach Bethlehem zurückzukehren, da der neue Herrscher dem Kinde ebenfalls feindlich gesonnen sei. Stattdessen solle die Familie nach Nazareth ziehen.
Auf andere Weise werden Nazareth und Bethlehem bei Lukas verknüpft. Seinem Bericht zufolge wohnte das Ehepaar in Nazareth und begab sich auf die über 100 Kilometer lange Reise nach Bethlehem, weil er die Stadt seines Ahnherrn David aufsuchen musste, um dort Angaben für einen Zensus (eine Schätzung der Bürger zu Steuerzwecken) des römischen Kaisers Augustus zu machen – als könnten die Römer dort seine Angaben über Besitz im fernen Galiläa kontrollieren! Kein Autor außer Lukas berichtet von einem solchen Zensus, der ohnehin nicht zur angegebenen Zeit (der Amtszeit des Herodes) in Palästina durchgeführt werden konnte, da das Territorium nicht zum römischen Reich gehörte. Lukas zufolge ging die heilige Familie nach Jesu Geburt nach Jerusalem, wo sie das Kind im Tempel dem Herrn „darstellten“ dann „kehrten sie wieder nach Galiläa zu ihrer Stadt Nazareth zurück“, wo durch die Gnade Gottes das Kind „wuchs und stark im Geist, voller Weisheit ward“ (2: 22, 39-40) – anders als bei Matthäus, wo diese Jahre von Gefahren bedroht und durch Wohnungswechsel geprägt waren.
Als Fazit formuliert das Nachschlagewerk „Religion in Geschichte und Gegenwart“: Bethlehem als Davidsstadt ist nicht der historische, sondern der von einer bestimmten Christologie postulierte Geburtsort Jesu. An diesem Beispiel können wir sehen, wie Theologen zu der Einsicht gekommen sind, dass die Evangelien insgesamt keine zuverlässigen historischen Dokumente, sondern Glaubensurkunden sind.
Jungfrauengeburt
Dementsprechend ist es ein besonderes Anliegen von Matthäus, Episoden aus Jesu Kindheit als Erfüllung von Prophezeiungen zu stilisieren. Aber die alttestamentlichen Stellen, die er zu diesem Zweck heranzieht, haben mit ihren angeblichen Erfüllungen nichts zu tun. Das bekannteste Beispiel ist seine Deutung der Schwangerschaft Marias „vom heiligen Geist" als Erfüllung der Prophezeiung: „Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Immanuel heißen" (1: 22-23). Das bezieht sich auf Jesaja 7: 14, wo der Prophet seinem König versichert, er habe nichts von Feinden im Norden zu fürchten, denn bis eine schwangere „junge Frau" (hebräisch ha'almah) ihr Kind gebäre, werde sich die politische und militärische Situation so verbessert haben, dass die Mutter dem Kind einen Namen guten Omens – Immanuel (Gott mit uns) – geben werde. Es ist die Septuaginta, eine einflussreiche griechische Version des Alten Testaments, die das hebräische ha'almah mit parthenos (Jungfrau) übersetzt. Aber auch so wird nichts Übernatürliches vorhergesagt – nur dass eine, die jetzt noch Jungfrau ist, schließlich mit ihrem Gemahl vereint, wohl auf natürliche Weise, schwanger werden wird. Moderne Versionen, z.B. die amerikanische Revised Standard Version, übersetzten das Jesajawort korrekt mit „a young woman" – zum Entsetzen der amerikanischen Fundamentalisten, die deshalb Exemplare dieser Bibelausgabe verbrannten.
Dieses kleine Beispiel ist typisch für die Instrumentalisierung des Alten Testaments durch Autoren des Neuen Testaments, die „Stellen aus dem Zusammenhang reißen und mit Hilfe von Allegorie und Typologie alte Geschichten neu deuten". Auch „widersprechen sie dem eindeutigen Sinn des Textes, finden Hinweise auf Christus in Stellen, deren Verfasser nichts Derartiges beabsichtigten, und bearbeiten den Wortlaut, damit er den gewünschten Sinn hergibt." Dies ist nicht etwa das Urteil eines ungläubigen Spötters, sondern der Lady Margaret Professor of Divinity an der Universität Cambridge (Hooker 1981, S. 295). Auch der katholische Neutestamentler Raymond Brown bestätigt: „die Vorstellung, Prophetenbücher enthalten Weissagungen für die ferne Zukunft, ist heutzutage zum größten Teil aus der ernstzunehmenden Forschung verschwunden." (Brown 1971, S. 146) Während die frühen Christen noch glaubten, die Propheten hätten „nicht sich selbst, sondern uns gedient" (1. Petrus 1: 12), haben moderne Alttestamentler längst eingesehen, dass sich die Texte mit Themen ihrer Entstehungszeit befassen. Dennoch besteht Papst Benedikt XVI weiterhin auf einer "christlichen Hermeneutik", die Jesus Christus als Schlüssel zur ganzen Bibel sieht, so dass das Alte Testament „christologisch" zu lesen sei.
Die jungfräuliche Geburt Jesu galt als erste Manifestation seiner göttlichen Abkunft, als weiteren Beleg zog man im frühesten Christentum die Auferstehungsgeschichte hinzu. Eine spätere Legende erzählt, wie Gott sich bei Jesu Taufe als dessen Vater zu erkennen gab (Mk. 1: 10-11). Aber auch das genügte den Frommen nicht, folglich bringen Matthäus und Lukas seine Zeugung mit dem heiligen Geist in Verbindung. Wie der amtierende Erzbischof von Canterbury zugibt, ist allzu klar, welchem Zweck die Geburtsgeschichte dienen soll („We can see too clearly for comfort what job the story is meant to do", Willilams 1994, S. 26).
All dies und vieles mehr wird von protestantischen Theologen seit dem Pionierwerk von David Friedrich Strauß „Das Leben Jesu kritisch bearbeitet“ (1835) kaum mehr bestritten. Inzwischen sind katholische Gelehrte zögernd den protestantischen gefolgt. Für Hans Küng beispielsweise sind die Geburtsgeschichten „historisch weithin ungesicherte, unter sich widersprüchliche, stark legendäre und letztlich theologisch motivierte Erzählungen" (Küng 1976, S. 441). Dennoch ist für Katholiken bei derartigen Behauptungen Vorsicht angebracht. In der 1993 erweiterten Ausgabe seines bahnbrechenden Buches „The Birth of the Messiah“ erwähnt Raymond Brown den Vorschlag eines spanischen Jesuiten der 70er Jahre, die jungfräuliche Empfängnis als Legende zu betrachten. Dies führte zu einem Protest von mehr als 10 000 Spaniern, zu einer Beteuerung des traditionellen Glaubens durch spanische Bischöfe und zu einer Verwarnung des Jesuitengenerals.
Widersprüche überall
Strauß konnte beweisen, dass die Probleme, die die Kindheitsgeschichten aufwerfen, sich durch das gesamte Neue Testament ziehen. Die Berichte sind untereinander widersprüchlich, widerlegen sich an vielen Stellen selbst, es fehlen Bekräftigungen durch externe Quellen, und immer wieder werden Ereignisse als Erfüllungen alttestamentlicher Erwartungen gewertet. Weiter versuchen die Autoren die Wunder des Alten Testaments zu überbieten. Jesus musste mit mindestens gleicher Macht ausgestattet sein wie die Gestalten der heiligen jüdischen Schriften. Er musste auf übernatürliche Weise Speisen verteilen und sogar Tote erwecken, sonst wäre er Elias und Elisa nicht ebenbürtig. Und da das Angesicht Mose auf Sinai glänzte, musste es auch für Jesus eine Verklärung auf einem Berg geben. Was die Jesusbilder der Christen dem Alten Testament verdanken, verrät nicht nur die oben zitierte Petrusbriefstelle, sondern auch der Hinweis des Paulus auf seine „Predigten von Jesu Christ, (...) auch kundgemacht durch der Propheten Schriften" (Röm. 16: 25-26). Mit anderen Worten: wenn nach christlicher Ansicht heilige Schriften dem Messias bestimmte Handlungen zuschreiben, dann musste Jesus genau dies getan haben – unabhängig von der historischen Quellenlage. Christliche Gelehrte räumen dies durchaus ein, wenn auch oft in einer verharmlosenden Formulierung. So lesen wir in einem berühmten, in 18 Sprachen übersetzten Buch, dass in der Kirche Leben und Tod Jesu im Kontext des Alten Testaments vorgetragen worden sei (Hoskyns, Davey 1938).
Dieser Einfluss ist in den Heilungsgeschichten spürbar. Jesaja 35: 5-6 verspricht: „Alsdann werden der Blinden Augen aufgetan werden, und der Tauben Ohren werden geöffnet werden. Alsdann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und der Stummen Zunge wird Lob sagen". Nach Strauß drückten diese Worte die Vorfreude der in Babylon gefangenen Juden auf ein baldiges Ende ihrer Gefangenschaft aus. Da jedoch nach ihrer Befreiung der erwartete Segen ausblieb, verstanden spätere Generationen diesen Text als Verheißung von Wunderheilungen, die in der messianischen Zeit zu erwarten seien. So kam es, dass Jesus nachgesagt wurde, er habe Blinde, Taube, Lahme und Stumme geheilt.
Heute wird dieser Erklärungsansatz für den Ursprung eines bestimmten Typs von neutestamentlichen Geschichten als wichtiges hermeneutisches Werkzeug angesehen. Allgemein formuliert, lautet das Prinzip so: Schilderungen historischer oder imaginärer Begebenheiten in alterwürdigen Schriften werden von späteren Generationen ohne Kenntnis der Entstehungszeit und der Entstehungsbedingungen gelesen. Diese Leser neigen dazu, das Berichtete vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen zu interpretieren. So beziehen sie die Texte auf Personen und Ereignisse ihrer Gegenwart, die den ursprünglichen Verfassern natürlich völlig unbekannt war.
Alle Jahre wieder
Die Qumranfunde am Toten Meer beweisen, dass nicht nur Christen,sondern auch jüdische Sektierer heilige Schriften auf genau diese Weise auslegten. Der Habakukkommentar dieser Sektierer interpretiert die ersten zwei Kapitel dieses heiligen Buches, als seien sie voller Hinweise auf Personen und Begebenheiten, die für diese Qumransekte von Bedeutung waren. Berichte über die chaldäischen Eindringlinge wurden als Beschreibungen der Eindringlinge ihrer eigenen Zeit, nämlich der römischen, gelesen.
Die traditionelle christliche Auffassung von alttestamentlichem Material als Jesusverheißungen ist in der christlichen Liturgie allgegenwärtig. Jedes Jahr zu Weihnachten werden in zahllosen Gottesdiensten die sogenannten Verheißungen der Kindheitserlebnisse des Herrn vorgetragen, die implizieren, dass die Juden den in ihren eigenen heiligen Schriften angekündigten Messias aus purer Verstocktheit nicht anerkannt haben. Angesichts der jahrhundertelangen christlichen Judenfeindschaft mag dies nachdenklich stimmen.
Die Ergebnisse der kritischen Exegese taten der Popularität dieser Weihnachtsgeschichten keinen Abbruch. Zu Weihnachten sind die Kirchen deutlich besser besucht als an anderen kirchlichen Festtagen, nicht zuletzt wegen des starken emotionalen Gehalts der Kindheitsgeschichte. Elaine Pagels, Dozentin für frühchristliche Geschichte, weiß wohl, dass die Formulierungen der Bischöfe des vierten Jahrhunderts, die zu den frühen christlichen Bekenntnissen führten, sehr fragwürdig sind", und dass wir von der Geburt Jesu „herzlich wenig" wissen. Dennoch fühlte sie sich bei einem mitternächtlichen Gottesdienst am heiligen Abend „von der Freude und Feierlichkeit des Festes hingerissen, und voller Liebe und Dankbarkeit der dort versammelten Gemeinde gegenüber " (Pagels 2006). Solche geradezu ansteckenden Emotionen lassen eine Gruppe ungleich rascher zu einer Einheit verschmelzen, als es Appelle an die Vernunft vermögen, und machen eine kritische Einstellung zu den damit verbundenen Ideen unmöglich.
Appelle an die Vernunft führen zu Diskussionen, zu Argumenten und zu Meinungsverschiedenheiten, Emotionen. Dieses Missverhältnis zwischen Vernunft und Emotion ist ein entscheidender Faktor, der den Fortbestand religiöser und politischer Systeme begünstigt. Ein Gedankengang stellt Ansprüche an das Erinnerungsvermögen und an die Fähigkeit, Ideen zu organisieren, und keine zwei Menschen sind auf diesen beiden Gebieten gleich begabt. Hinzu kommt, dass ihre Erfahrungen verschieden sind. Emotionen gibt es aber nur wenige, und sie sind Menschen jeglicher Begabung und Ausbildung von Kindheit an völlig vertraut, sodass ein Politiker oder Prediger leicht Zorn oder Enthusiasmus entfachen kann.
George Wells
Literatur
Brown, R. E. (1979): The Birth of the Messiah. Image, Garden City.
Hooker, M. (1981): New Testament Studies. Bd. 27.
Hoskyns, E.; Davey, N. (1938): Das Rätsel des Neuen Testaments. Kohlhammer, Stuttgart.
Küng, H. (1976): Christ Sein. Ex Libris, Zürich.
Pagels, E. (2006): Das Geheimnis des fünften Evangeliums. Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt. Deutscher Taschenbuch Verlag, München.
Williams, R. (1994): Open to Judgement. Sermons and Addresses. Darton Longman and Todd, London.