Ein Krokodil zu viel …
...erregte im Sommer 2001 die Gemüter nicht nur der Leser der Bild-Zeitung, die täglich große Artikel über den schuppigen Unhold im Rhein brachte.
Ulrich Magin
Es begann am 24. 6. bei Altlußheim in Baden-Württemberg, gegenüber Speyer. Der Radfahrer Michael Berbner, 31, stellt sein Mountain-Bike ab, um eben mal kurz auszutreten, als er aus nächster Nähe ein etwa eineinhalb Meter langes Krokodil erblickt.
„Ich sah das Tier auf einem Baumstumpf über dem Wasser liegen. Völlig regungslos. Aber als ich einen Erdklumpen warf, fauchte mich das Tier wild an, verschwindet im Wasser.“
Die Polizei hält den Zeugen für glaubwürdig, geht davon aus, dass das Krokodil ein Haustier war, das seinem Besitzer lästig und dann einfach ausgesetzt wurde – vielleicht ein Stumpfkrokodil oder Kaiman. So unwahrscheinlich ist das zunächst nicht, ist doch die Geschichte von „Sammy“, dem Kaiman, der vor ein paar Jahren in einen Neusser Baggersee entkam, noch in aller Gedächtnis. Die Bild bildet zur Illustration fortan in all ihren Artikeln zum Rheinkrokodil wahre Krokodilmonster ab, denn ein eineinhalb Meter langes Reptil wirkt nicht wirklich gefährlich. Bald patrouillieren Schaulustige am Rhein, Survival-Experten machen sich in Kanu und Schlauchboot auf die Jagd. Die Polizei sucht mit zwei Booten, allerdings ohne je eine Spur von dem Mostrum zu entdecken. Angler, an sich Experten für den großen Fang, warnen öffentlich, das Tier werde alle Fische im Fluss fressen. Und der Bürgermeister der Rhein-Gemeinde, Hans Wirnshofer, 58, fordert, den gesamten Rheinabschnitt zu sperren. Schließlich kennt man ja den „Weißen Hai“ aus dem Kino. Doch trotz der ganzen Aufregung bleibt das Krokodil verschwunden. Den Zeitungen, und hier vor allem der Boulevardpresse, bleibt nichts anderes übrig, als über die Aktivitäten der Monsterjäger zu berichten.
Das ändert sich am 26. 6. Je nach Quelle bei Eltville oder Rüdesheim in Rheinhessen, stolze 113 Kilometer flussabwärts von Speyer, werden frühmorgens bei der Rheininsel Mariannenaue zwei neue Sichtungen des Untieres gemeldet: Zuerst beobachtet der Kapitän Karl-Heinz Weinert, 58, an Bord des Güterschiffes „Sinn“ um 6.24 Uhr etwas in Wasser: „Ich dachte erst, es sei ein Baumstamm. Doch der schwamm auf die Insel zu und kletterte ans Ufer. Da erkannte ich das Krokodil. Es war bestimmt drei Meter lang!“ Die zweite Sichtung, sie soll kurz darauf durch einen Anwohner erfolgt sein, geistert nur als Nebensatz durch die Presse.
Kann das dasselbe Krokodil sein? Einmal eineinhalb Meter lang, dann gleich aufs doppelte angewachsen? Und so weit vom ersten Auftauchen entfernt? Für Bild ist die Sache klar: Ja, so muss das sein. Und man zaubert gleich die Expertenmeinung hinzu: Ein Tierarzt, Dr. Florian Brandes, erklärt der Zeitung, das Tier habe sich offenbar 113 Kilometer treiben lassen. Als Kaltblüter sei es nicht kräftig genug, die ganze Strecke zu schwimmen. Wieder fahndet die Polizei mit einem Hubschrauber, mit Booten und 20 Beamten. Aber schon tauchen die ersten Skeptiker auf. So erklärt der Leiter der Reptilienforschung des Frankfurter Senckenbergmuseums, Gunther Köhler, gegenüber der Presse: „Krokodile legen in zwei bis drei Monaten maximal 30 Kilometer zurück.“ Aber es ist schon ein Tierpark im Hessischen gefunden, der bereit ist, Kroko aufzunehmen, sollte er oder sie gefangen werden.
Nun geschieht, was immer geschieht, wenn von irgendwo Monster- oder UFO-Aktivität gemeldet wird: Ein Zeuge taucht auf, der das Phänomen längst vor seinem ersten Auftauchen beobachtet haben will. Ein Artikel der Allgemeinen Zeitung (Mainz) berichtet, man habe Kontakt mit einer Frau, die zusammen mit ihrer Cousine bereits am 9. 6. ein Krokodil bei Heidesheim gesehen habe – es lag, nur fünf Meter vom Rheinufer entfernt, im Wasser. Die Polizei habe keine Meldung vorliegen, sagt der Mainzer Polizeisprecher Lothar Neumann, er bitte die Zeitung, die Adresse der Zeugin zu übermitteln. Es geschieht nichts, aber die Presse meldet: „Zwei Krokodile im Rhein?“ Selbst im Ausland gibt es nun regelmäßig Zeitungsmeldungen über „the Rhine crocodile“.
Zumindest scheint jetzt eindeutig, dass sich im Rhein zwischen Mainz und Bingen ein großes Krokodil tummelt. Der Landrat des Rheingau-Taunus-Kreises erlässt ein Badeverbot für die hessische Rheinseite. Polizei und Forstbeamte sind auf Suche zu Wasser, in der Luft und zu Lande. Kameracrews, Journalisten und Abenteurer fahnden nach dem Tier. Am Wochenende wird das Badeverbot verlängert. Gesehen wird das Tier aber nicht. Ein Sprecher der Soko Kroko: „Die Gefahr ist noch nicht vorüber, wir halten weiter nach dem etwa 1,50 Meter langen Reptil Ausschau.“
Allein, das Tier meidet den Rummel und bleibt über eine Woche lang auf Tauchstation. Bild muss die Durststrecke überbrücken, indem es Interviews mit Krokodiljägern sowie Verhaltenstipps bringt, sollten seine Leser dem Unhold begegnen. Dann, am 2. 7. um 22.30 Uhr, lässt sich der Schuppenknecht wieder blicken. Der Kapitän Hartmut Jeschke, 57, und zwei Besatzungsmitglieder des Tankmotorschiffes „Adria“ sehen das Krokodil in einer sternklaren und mondhellen Nacht nahe Bingen. Zuerst war da nur Gepolter an der Bordwand, dann Kroko. „Unter mir schwamm das riesige Krokodil, etwa zwei Meter lang. Mit dicken, braunen Schuppen bedeckt.“, sagt der Kapitän. Und Steuermann Hein Schneider, 65, fügt hinzu: „Es schwamm am Schiff vorbei. Klatschte mit dem Schwanz aufs Wasser, verschwand dann im Strudel der Schiffsschraube Richtung Rüdesheimer Aue. Echt unheimlich.“
Der Polizeisprecher Helmut Oberle hält die Aussagen für zuverlässig. Doch wieder bleibt die Suche mit Hubschrauber und Polizeibooten ohne Erfolg. Bis zum 4. 7. Da nämlich sichten Beamte der Wasserschutzpolizei das Krokodil bei Bad Geisenheim im Rheingau. Träge treibt es nahe des Ufers. Beherzt packen die Gesetzeshüter zu – und fischen ein Holzkrokodil aus den Fluten. Aus einem Baumstamm geschnitzt, stramme zwei Meter lang, 70 kg schwer, mit Kopf, Schuppen und großen Augen. Polizeisprecher Norbert Hübsch: „Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt und ganz schön geschuftet.“ Der Scherz findet Nachahmer. Und so fangen Passanten, die Kroko einige Tage später am Schwanz packen, nur ein Plastikkrokodil. Und das beendet die Saga. Das Holzkrokodil könnte es gewesen sein, dass alle genarrt hatte, präsentiert die Presse schließlich als Lösung der aufregenden zwei Wochen.
Das allerdings ist durchaus nicht die Lösung des Phänomens. Zum ersten muss festgestellt werden, dass ein Krokodil im Rhein so ungewöhnlich nicht ist. Sammy aus Neuss wurde bereits erwähnt, laut Bild soll auch bereits 1929 ein Krokodil im Rhein gefangen und in einen Zoo gebracht worden sein, schon 1914 hat auch der Fischer Gustav Meisch eine Schuppenechse bei Plittersdorf am Rhein aus seinen Netzen gezogen. Und nur wenige Tage nach der letzten Sichtung des Rheinkrokodils fischte die Wiener Feuerwehr nach der Meldung von Passanten ein 70 Zentimeter langes Krokodil aus dem Donaukanal und brachte es in den Tiergarten Schönbrunn. Der Wal im Rhein ist unvergessen, und in Dresden lässt sich alle paar Jahre eine Robbe in der Elbe sehen. Aber kann ein reales Krokodil überhaupt die Lösung gewesen sein? Haben alle Zeugen tatsächlich eine ausgebüxte Panzerechse oder ein geschnitztes Tier beobachtet?
Die Behauptung, ein Holzkrokodil habe die ganze Panik ausgelöst, ist offensichtlich ebenso absurd wie die Vorstellung, ein ständig wachsendes und wieder schrumpfendes reales Krokodil, das zwischen Speyer und Bingen hin- und herpaddelte, sei der Auslöser gewesen. Der Bericht aus Wien und viele andere ähnliche Vorfälle in der Vergangenheit haben gezeigt, dass die eher trägen Krokodile nicht so agil sind, dass sie auf Dauer ihren menschlichen Häschern entkommen können. Und Sammy war viel kleiner, wurde ebenfalls oft genug gesichtet, verstand es aber, den Polizisten und Tierfängern zu entkommen. Untergetaucht jedoch war der nie.
Wahrscheinlicher ist, dass die verschiedenen Sichtungen, besonders nach dem ersten Bericht, von ganz unterschiedlichen Objekten ausgelöst wurden (man kann an Bisamratten denken, Treibholz, sogar badende Hunde), die nur deshalb als Krokodil wahrgenommen wurden, weil die Zeugen aus der Presse wussten, dass ein Krokodil im Rhein schwimmen sollte. Da war eben etwas Großes, offenbar Lebendiges, was so noch nie gesehen worden war, und die Lösung war schon vor der Sichtung bekannt: Ein Krokodil musste es sein.
Nicht anders übrigens entstand im Sommer 1933 die Saga vom Ungeheuer von Loch Ness: Zuerst sah ein Ehepaar nur einen Wasserwirbel, dann deutete die örtliche Zeitung diesen als Zeichen für die Anwesenheit eines Monsters, dann erblickten plötzlich auch andere Zeugen „einen großen Fisch“ im See, und ganz zum Schluss meldeten sich – wie dieses Jahr beim Rhein-Krokodil – auch Leute, die das Ungeheuer schon „vor der ersten Sichtung“ gesehen haben wollten. Auch damals wurden sonst eher unscheinbare Erlebnisse neu gedeutet, als man von der Anwesenheit eines Monsters im See erfuhr. Die Aufregung vom Rhein war also eine ausgezeichnete Gelegenheit, live mitzuverfolgen, wie die Medien aus fast alltäglichen Beobachtungen (es werden nämlich fast monatlich irgendwo in Deutschland Krokodile gesehen, erfolglos gejagt und die Jagd dann eingestellt) eine Monstersaga bastelten. Bis zum nächsten Jahr.
„Ich denke, es könnte vielleicht eine Python sein … oder eine Boa Constrictor. Vielleicht hat jemand seine Hausschlange in der Toilette heruntergespült. Vor Jahren haben wir einmal in den Kanälen einen Alligator gefunden“, erzählt in der Episode „Der Parasit“ ein Kanalarbeiter den beiden „X“-Agenten Mulder und Scully, die eine geheimnisvolle Kreatur tief unten im Dreckwasser jagen. Tatsache oder urbane Legende? Vielleicht beides. 1963 veröffentlichte der US-Schriftsteller Thomas Pynchon seinen Roman „V“, in dem er unter anderem folgende Mode-Torheit beschreibt: „Letztes Jahr, oder vielleicht in dem Jahr davor, kauften Kinder in ganz Nueva York kleine Alligatoren als Haustiere. Bei Macy’s konnte man sie für 50 Cent bekommen; jedes Kind, so schien es, musste einfach einen haben. Aber schon bald wurden sie den Kindern langweilig …“
Die Folge: „…und nun krochen sie – große, blinde Albinos – überall durch die Kanalisation.“ Diese Passagen brauchte Pynchon zumindest nicht völlig frei zu erfinden: In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts tummelten sich angeblich wirklich Alligatoren in New York. Der Superintendent der New Yorker Abwasserbehörde, Teddy May, habe die zahlreichen Gruselstorys seiner Arbeiter zunächst selbst nicht glauben wollen – bis er sich mit eigenen Augen von der Anwesenheit großer Schuppenechsen in der Kanalisation überzeugte. Mit Rattengift und Gewehren sollen May und seine Leute den Reptilien zu Leibe gerückt sein, die recht zahlreich auch den Bronx River bevölkerten, aber um 1937 allesamt erlegt wurden. Das jedenfalls berichtet der Autor Robert Daley in seinem 1959 erschienenen Sachbuch „World Beneath The City“, für das er ein ausführliches Interview mit Teddy May führte. An dessen Glaubwürdigkeit scheiden sich indes die Geister. Der amerikanische Folklorist und führende „Urban Legends“-Forscher Jan Harold Brunvand von der University of Utah zögert nicht, May einen „Spinner“ zu nennen. Der bekannte Kryptozoologe Loren Coleman hält dagegen die damalige Kroko-Jagd im Großstadtdschungel für glaubwürdig. Darüber hinaus ist bekannt, dass Alligatoren in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts bei mondänen New Yorkern in der Upper East Side als exotisches Status-Symbol hoch im Kurs standen.
Fakt ist, dass die New York Times im Zeitraum von 1905 bis 1993 aber nur 13-mal über Alligatoren, Krokodile oder Kaimane in und um New York berichtet hat – und nur eines dieser Tiere war direkt in der Kanalisation gesichtet worden. Zuletzt machte im Juni 2001 „Damon the caiman“ Schlagzeilen, der von der New Yorker Polizei lebend aus einem See im Central Park gezogen wurde. Irgendetwas an solchen Begebenheiten ist jedenfalls publikumswirksam genug, um sie dauerhaft ins Reich der modernen Mythen zu überführen. Die Wissenschaftsjournalistin Jane Goldman spekuliert: „Es ist kaum verwunderlich, dass Abwasseranlagen so gut in die erzählerische Volkstradition passen. Sie sind dunkel, stinkend und nur wenige bekommen sie je zu Gesicht. Sie sprechen unsere Urängste an, unsere Faszination für das verborgene Unbekannte, das unter der zivilisierten Oberfläche lauert.“ Bernd Harder
Literatur:
- Coleman, L. (1983): Alligators in The Sewers. In: Mysterious America. Faber&Faber, Boston
- Goldman, J. (1997): Die wahren X-Akten, Band 2. vgs, Köln
- „Gatored Community“
- „New York City’s Alligator Population (cryptozoology.com)
- „Alligators in the Sewers“
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 4/2001.